Sonntag, 1. Mai 2011

Tag 0 (Replay)

Tag 0
Stammzellengabe
Knochenmarkstransplantation

der erste Tag des Wiederaufbaues
System-Reboot
der zweite Geburtstag

der Tag an dem die Tage vom Minus
ins Plus kippen
die Uhren zurückgestellt werden
der countdown ein count-up wird

die verbalen rituale um diesen tag
sind in meinen ohren ein kleinwenig "esoterisch"
aber das ist wohl ansichtssache
einen wald aufforsten ist eine heidenarbeit
auch wenn dein ursprüngliches ziel war
das unkraut loszuwerden
als du ihn niedergebrannt hast

tag 0
und am vormittag gibts dann nicht nur ein d-day
sondern auch eine h-hour - 12.30
und selbst das warten fühlt an diesem tag sich heilig an

das gefühlt irgendetwas bedeutendes
tun oder denken zu müssen
und dann doch nur bereit sein

den ganzen vormittag heizt die sahara auf
mit knacksenden summenden geräuschen
vor meiner tür
und einem dezenten piepsen
wenn der sensor die korrekte temperatur quitiert
sahara, ein kleiner ofen
der meine tiefgefrohrenen stammzellen
(4,9 Millionen Stück)
auf Betriebstemperatur bringen wird

die Zeit ist um
und ich hänge an den monitoren
vertreibe mir die zeit mit einfachen bio-feedback spielchen
small talk während den letzten vorbereitungen
6 leute in meinem zimmer
welcher aufwand

es geht los
die stammzellen - in einem lächerlich
nur zu einem viertel vollen blutkonservensack
werden hereingereicht

draußen steht der der mann von der blutbank
- heute ein shakespearscher bote - "the day is yours"
der sich sicher ist, dass das was er heute überbringt
mit freuden entgegengenommen wird -
mit der fettesten ausweißplakette die ich je gesehen hab
in zivil aber anonym unter seinem mundschutz
und die übergroße grüne haube lässt mich schmunzeln
(wie wenn er am weg zu einem kinderfasching wäre)
ein nicken
das mehr enthält als worte in den kurzen augenblick ausdrücken könnten
in dem sich unsere augen treffen

namen, daten, nummern werden verlesen
kontrolliert und protokolliert
gerade so als ob es sich um die einsatzcodes
strategischer nuklearwaffen handelt
und übung ist auch das keine

der eigentliche akt der stammzellengabe
ist ebenso archaisch wie unspektakulär
die stammzellen (in der kühlflüssigkeit)
- mit der farbe von pink grapefruit, naturtrüb
rinnen
einfach durch meinen portacath in mich hinein
ein  paar gespannte minuten
und dass womit niemand gerechnet hat - bleibt aus

lediglich ein sanfter geschmack auf den lippen
"irgendwie fruchtig"
(und tags darauf wird eine schwester kommen und sagen
"hier richt es nach frischen zellen" (obwohl es das kühlmittel ist, das man riecht)
und der geschmack in diesen minuten wird ausreichen
um ihr zu glauben)

und nach knapp 20 minuten ist auch das vorbei
die ärztin lässt den schlauch bis zuletzt in mich rinnen
"wir wollen nichts vergeuden"
und ich denke an einen kleinen buben
der seine erstes cola trinkt und sich fragt wie er nach der flasche
auch noch den strohhalm
richtig leer bekommt.

die party ist vorbei
und ich bin wieder alleine mit meinen maschinen

ein schmunzeln vor dem hinübergleiten
in einen sanften schlaf
über einen gedanken
den es erst zu fassen gilt

angel eyes (REPLAY)

meine engel hatten keine flügel
und an ihre gesichter werde ich mich nur schwer erinnern
weil ich viele von ihnen selten oder gar nicht gesehen hab
lediglich ihre augen

lediglich ihre augen
die haare versteckt
die gesichter vermummt
die stimme gedämpft - verzerrt
und lediglich ihre augen sprechen wirklich
und was ich von ihren gesichtern zu sehen sehen glaube
ist das nachbild einer erinnerung bestenfalls

eine neue stimmen die an meinem bett auftaucht
nachts im gegenlicht
der körper etwas klobig in der wärmenden nachtdienstkluft
so als ob sie drunter flügel versteckt hätte

augen die auf mich einreden
mir zureden
nachdem ich zu lange die schmerzmittel verweigert
und natürlich behandelt sie mich gerade wie ein kleines kind
- weil ich mich auch gerade wie eines verhalte -
aber ich verstehe was sie wirklich sagen:
hör jetzt auf den helden zu spielen um er nachher zu sein
lass dich jetzt fallen - um nachher zu fliegen
(und wer wüsste das besser als sie)

mundlose gesichter
redundanzen reduziert
weil auch augen können lachen

zuletzt auch die letzten attribute
ihrer persönlichkeiten
meinem blick entzogen
die frisuren unter den ewig grünen
hauben versteckt

der streng und dynmiasche zopf
(mein puls angenehm auf 140 hoch bei unserem ersten aufeinandertreffen)
die hochgesteckten haare
(die immerschon irgendwie für begehrenswerte geborgenheit standen)
die wallende Mähne

sie alle - uniformer als ich es je gewesen bin
meine armee des lichtes

tag 11 - die ersten schritte außerhalb meines zimmers
es ist warm, unsere ärmel hochgekrempelt
zum ersten mal sehe ich ihr haar
mit den kecken kleinen rossschwanz
die bänder unserer masken flattern
die schritte so leicht
und meine trunken von den vielen raum
nur ein wenig den gang entlang
und ihre augen sehen aus wie die
der jungen linda evangelista
und ihr gesicht werde ich erst in 4 tagen sehen

langsam dämmerst es
das du die tage hier ohne lager-koller
überstehen wirst
aber ein stockholm-syndrom
mit heim nimmst

meine engel hatten nur ihre augen
andererseits
auch augen haben die form von flügel